Frankfurter Rundschau: Auswärtiges Amt erschwert Familiennachzug

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18.10.2021
Fragwürdige Visa-Vergabe: So erschwert das Auswärtige Amt den Familiennachzug

Fünfzehn Jahre nach seiner Hochzeit sitzt Tesfay Haile in einem Raum des Berliner Verwaltungsgerichts und muss sich erinnern: Welche Kleidung hatten seine Ehefrau und er damals an? Wie lange ging die Feier? Was gab es zu essen? Von seinen Antworten hängt an diesem Tag im Sommer 2021 viel ab. Sie können beeinflussen, ob der 41-Jährige seine Ehefrau und seine vier Kinder endlich wiedersehen kann.
Familie bittet um Visa, muss aber mehr als vier Jahre warten

Denn Hailes Familie wartet in Äthiopien und hofft auf ein Visum für Deutschland. Die deutsche Botschaft hat ihren Antrag auf Familienzusammenführung aber abgelehnt. „Eine wirksame Eheschließung wurde nicht nachgewiesen“, schrieb die Botschaft in der äthiopischen Stadt Addis Abeba im Herbst 2020. Seit über vier Jahren lebt die Familie mittlerweile getrennt.

Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung am Verwaltungsgericht und weiteren Akten lässt sich die Geschichte der Familie Haile rekonstruieren. Tesfay Haile heißt eigentlich anders, er hat darum gebeten, seinen Namen nicht zu nennen. Nach der Erfahrung mit dem Visaverfahren fürchtet er künftige Auseinandersetzungen mit den deutschen Behörden.

Tausende Familien müssen jahrelang darauf warten, zusammen in Deutschland leben zu können. Deutsche Behörden nutzen offenbar ihre Macht, damit sich das nicht ändert. Vor Gericht bietet das Auswärtige Amt systematisch einen Deal an: den „Berliner Vergleich”. Das zeigen Recherchen von Ippen Investigativ, FragDenStaat und dem ARD-Politikmagazin Kontraste.
Fragwürdige Visa-Vergabe: So erschwert das Auswärtige Amt den Familiennachzug

Eigentlich kommt seine Familie aus Eritrea. Tesfay Haile floh 2016 aus dem Land, für das ein UNHCR-Bericht ein Jahr zuvor „systematische, weit verbreitete und schwere Menschenrechtsverletzungen“ feststellte. Also machte sich Haile nach eigenen Angaben über den Sudan, Libyen und das Mittelmeer auf den Weg nach Europa. Seine Frau, seine drei Töchter und sein Sohn blieben zunächst in Eritrea und flohen 2017 nach Äthiopien. Das jüngste Kind war damals vier Jahre alt.

Weil ihre Anträge auf Visa abgelehnt wurden, hat Familie Haile geklagt. Nach über zwei Stunden Verhandlung gibt es eine Entscheidung: Die Antworten des Mannes waren glaubwürdig, er konnte sich sogar noch an das Essen der Hochzeit erinnern, es gab ein eritreisches Nationalgericht. Außerdem stützte ein stundenlanges Hochzeitsvideo seine Schilderungen. Hailes Familie darf also aus Äthiopien einreisen – doch das Auswärtige Amt stellt eine Bedingung: Die Hailes müssten die Klage zurücknehmen und die Kosten des Verfahrens übernehmen.
Recherchen zeigen: Die fragwürdigen Visa-Deals haben System

Recherchen von Ippen Investigativ*, dem ARD-Politikmagazin Kontraste und der Transparenzplattform FragDenStaat zeigen, dass das Auswärtige Amt Migranten vor Gericht diesen Deal systematisch anbietet: Visa gibt es bei Gericht nur, wenn die Klage zurückgezogen wird und die Kosten übernommen werden.* Die Betroffenen lassen sich dann, wie auch Familie Haile, auf diese sogenannten Vergleiche ein, weil sie andernfalls noch lange auf einen Urteilsspruch mit ungewissem Ausgang warten müssten. Das Auswärtige Amt vermeidet dadurch eine juristische Niederlage – auch weil das Verwaltungsgericht Berlin bei dieser Praxis regelmäßig kooperiert. Dadurch ist über Jahre eine Praxis entstanden, mit der das Auswärtige Amt Geld spart und Visa-Verfahren beim Familiennachzug verzögert werden.

Wie häufig solche Fälle vor Gericht landen, zeigt eine interne Statistik des Ministeriums, die Kontraste, Ippen Investigativ und FragDenStaat exklusiv vorliegt. Seit 2017 wurden rund 20.000 Verfahren gegen das Auswärtige Amt geführt, in denen die Behörde die Erteilung von Visa zunächst abgelehnt hatte. Etwa 6200 Familien bekamen am Ende doch ein Visum ausgestellt. In 95 Prozent dieser Verfahren, bei 5855 Familien, kam es zu keinem Urteil – stattdessen bot das Auswärtige Amt den Familien eine Einigung wie den „Berliner Vergleich“ an.
Monatelange Recherchen legen Visa-Praxis des Auswärtigen Amtes offen

Ippen Investigativ, Kontraste und FragDenStaat haben über mehrere Monate mit Anwält:innen, Betroffenen, Flüchtlingshelfer:innen, Richter:innen, Politiker:innen und Vertreter:innen von NGOs gesprochen, Gerichtsverhandlungen besucht, gerichtliche Dokumente analysiert und Statistiken zu dem Ausgang der Gerichtsverfahren ausgewertet.

Die Strategie des Auswärtigen Amts, den Betroffenen einen solchen Deal vorzuschlagen, ist unter zahlreichen Migrationsanwält:innen auch als „Berliner Erpressung“ bekannt. Die Nachteile für die Migrant:innen sind vielzählig: Durch diese „Vergleiche” wird verhindert, dass es eine gültige Rechtsprechung gibt, auf die sich Behörden und andere Antragsteller:innen berufen könnten. Das ist ein Problem: Botschaften in den Ländern, in denen Familien einen Antrag auf Visa stellen, sollen sich laut Auswärtigem Amt an der aktuellen Rechtsprechung orientieren.

Auch Richter:innen berufen sich oft auf bereits bestehende Urteile. Werden aber keine positiven Urteile für Einwanderer:innen gesprochen, gibt es keine sogenannten Präzedenzfälle. So ändert sich nichts an der Praxis für Familien, die in Zukunft Anträge stellen möchten.

Die Kosten für Gericht und Anwält:innen tragen bei den Vergleichen am Ende die Einwander:innen, meist Summen im vierstelligen Bereich – weniger, wenn Prozesskostenhilfe gewährt wird. Für Schutzsuchende in Deutschland, die oft nur eine schlecht bezahlte Arbeit haben, kann das ein hoher Betrag sein.
Auswärtiges Amt spart durch fragwürdige Visa-Deals Millionen

Das Auswärtige Amt spart dadurch eine Menge Geld. Die genaue Summe lässt sich nicht berechnen, weil die durchschnittlichen Kosten der Verfahren nicht bekannt sind. Geht man aber von etwa 2000 Euro pro Verfahren (Gerichts- und Anwaltskosten) aus, spart die Behörde bei den von uns ermittelten 300 bis 500 Vergleichen pro Jahr jährlich rund eine Million Euro.

Auf eine Presseanfrage antwortet das Auswärtige Amt, dass es nur in wenigen Fällen überhaupt zu Klagen käme. 100.000 Visa werden pro Jahr insgesamt für den Nachzug von Familien erteilt. Dass viele gerichtliche Verfahren mit einem Vergleich enden, ist laut Auswärtigem Amt vor allem damit zu erklären, „dass erst im Rahmen des Verfahrens alle für eine Visumserteilung erforderlichen Nachweise vorgelegt“ würden. Vergleiche seien „im Interesse der Antragstellenden“, da die Beilegung für sie Zeit und Kosten spare.

Tesfay Hailes Familie ist seit wenigen Wochen in Deutschland. Es ist Anfang Oktober und die Familie wohnt in einer Gemeinschaftsunterkunft in Berlin-Spandau, weiße Container stehen eng aneinander. Tesfay Haile ist aufgeregt, am Mittag soll er mit seiner Familie die Unterkunft wechseln. Wenn er an die Jahre davor zurückdenkt, spricht er leiser. Die Zeit bezeichnet er rückblickend als „Hölle“. „Es ist sehr schwer, ohne Kinder und Ehefrau hier zu leben. Das hat mir richtig zugesetzt“, sagt Haile. „Ich hatte kein Selbstbewusstsein mehr, ich wurde depressiv. Ich wusste ja nicht, wann meine Familie kommt – oder ob sie überhaupt kommen darf.“

Mittlerweile arbeitet Haile als Mitarbeiter bei einem Versandhandel, er verdient monatlich 1400 Euro. Der „Berliner Vergleich“ habe ihn finanziell massiv belastet, allein die Anwaltskosten übersteigen sein Monatsgehalt. „Es ist sehr, sehr viel Geld, aber das große Problem ist gelöst. Meine Familie ist hierher gekommen, das zählt für mich“, sagt Haile. „Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste meine Kinder, meine Ehefrau hierher bringen – koste es, was es wolle.“