Offener Brief des MediNetz an Sozialsenatorin Stahmann und Bürgermeister Bovenschulte zur Situation in der Erstaufnahmeeinrichtung in der Lindenstraße

Error message

Deprecated function: The each() function is deprecated. This message will be suppressed on further calls in menu_set_active_trail() (line 2405 of /kunden/230150_28203/webseiten_neu/includes/menu.inc).
24.4.2020
Offener Brief des MediNetz an Sozialsenatorin Stahmann und Bürgermeister Bovenschulte zur Situation in der Erstaufnahmeeinrichtung in der Lindenstraße

Es folgt die Pressemitteilung und darunter der Brief:

Pressemitteilung des MediNetz Bremen zum offenen Brief an Frau Stahmann und Herrn Bovenschulte vom 24.04.2020

Schutz vor Corona gilt für alle Menschen

Seit dem 16.04.2020 befindet sich ein großer Teil der Menschen in der Bremer Erstaufnahmeeinrichtung Lindenstraße (EAE) unter Quarantäne. 33 Personen waren positiv auf Sars Cov 2 getestet worden. „Jeden Tag kommen neue Fällen hinzu“, sagte ein Bewohner der Einrichtung am Sonntag. Am 23.04.2020 waren es 120 Fälle und das Ende der Ausbreitung ist nicht in Sicht.

Das MediNetz Bremen prangert in dem offenen Brief vom 24.04.2020 an die Senatorin der Sozialbehörde Frau Stahmann sowie den Bürgermeister Herrn Bovenschulte deren Verantwortungslosigkeit an. „Bereits am 3. März wurde vom Robert Koch Institut (RKI) die dringende Empfehlung ausgesprochen, Massenunterkünfte wie diese bundesweit zu schließen“, erklärt Frau Dr. med. Maren Janotta, Ärztin und Mitarbeiterin im MediNetz. „In allen anderen Bereichen war Bremen bereit, die Auflagen des RKI umzusetzen und unter großem Aufwand und Geldeinsatz die Sicherheit der Menschen vor der Ansteckung zu erhöhen. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.“

Im MediNetz Bremen arbeiten Hebammen, Ärzt*innen, und andere Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen, die sich tagtäglich dafür einsetzen, die Pandemie in Bremen einzudämmen. Der offene Brief wurde formuliert, um mit dieser medizinischen Expertise aufzuzeigen, warum der bisherige Umgang in der EAE unverantwortlich ist und was jetzt sofort geschehen muss, um den weiteren Infektionen dort Einhalt zu gebieten. „Die Quarantänevorschriften des RKI wurden und werden in der Erstaufnahmeeinrichtung keineswegs befolgt“, meint Frau Dr. med. Vera Bergmeyer, ebenfalls Ärztin und Mitarbeiterin im MediNetz. „Wie soll das auch funktionieren, wenn die Zimmer zum Teil immer noch mit bis zu vier Personen belegt sind, ohne dass es sich dabei um Familienverbünde handelt. Wir sind wirklich empört, dass Frau Stahmann Menschen, die in ihrer Obhut leben, dem Ansteckungsrisiko derart unbedacht aussetzt, sie gefährdet und in keiner Weise Verantwortung dafür übernimmt.“

Das MediNetz hat klare Forderungen aufgestellt, die nach Ansicht der Mitarbeiterinnen sofort umgesetzt werden müssen. „Quarantänemaßnahmen dürfen nicht in Großgruppen erfolgen und Menschen, die sich mit positiv Getesteten bisher auf engem Raum aufhalten mussten, müssen erneut getestet werden“, fordert Frauke Schukat, Hebamme und Mitarbeiterin im MediNetz. „Wir verlangen Aufklärung darüber, wer für das Missmanagement und die Massenansteckung in der EAE verantwortlich ist. Denn alle Menschen haben das gleiche Recht auf einen Schutz vor Corona!“

MediNetz Bremen

--------------------------------------------------------

An
Frau Senatorin Anja Stahmann
Herrn Bürgermeister Andreas Bovenschulte

Sehr geehrte Frau Stahmann, sehr geehrter Herr Bovenschulte,

seit dem 16.04.2020 befindet sich ein großer Teil der Menschen in der Bremer Erstaufnahmeeinrichtung Lindenstraße (EAE) unter Quarantäne. 33 Personen waren positiv auf Sars Cov 2 getestet worden und jetzt kommen jeden Tag neue Fälle dazu. Am 23.04.2020 waren es 120 und das Ende der Ausbreitung ist nicht in Sicht.

Sie als Senatorin der Sozialbehörde und als Bürgermeister unserer Stadt haben sich bisher jeglicher Verantwortung für diese Massenansteckung verwehrt. Es scheint Ihnen eine Selbstverständlichkeit, Geflüchtete in Zeiten von Corona – allen Warnungen zum Trotz – weiter in Massenunterkünften unterzubringen. Bundesweit befinden Sie sich damit in bester Gesellschaft, wie zum Beispiel das Ankerzentrum Geldersheim im CSU-regierten Bayern zeigt, wo am Montag, den 20.04.2020, im Rahmen derselben Politik ein Mann aus Armenien an Covid 19 verstorben ist. Es ist genau diese Ignoranz, die die Ansteckungszahlen nach oben treibt und Leben gefährdet.

Die Entscheidung eine Massenunterkunft in der Corona-Pandemie aufrecht zu erhalten, trafen und treffen Sie, der dringenden Empfehlung des Robert-Koch-Institutes (RKI) diese bundesweit zu schließen, zum Trotz. Diese Empfehlung wurde bereits am 03.03.2020 ausgesprochen und es ist völlig unerklärlich, wieso sie ignoriert wurde. In allen anderen Bereichen war Bremen bereit, die Auflagen des RKI umzusetzen und unter großem Aufwand und Geldeinsatz die Sicherheit der Menschen vor der Ansteckung zu erhöhen – warum nicht bei den Geflüchteten in der Erstaufnahmestelle?
Kritiken, die dies als strukturellen Rassismus betiteln, werden empört zurückgewiesen. Die Strafanzeige des Flüchtlingsrats wird als Affront betrachtet. Ihnen scheint nicht bewusst, dass Sie verschiedene Maßstäbe an die Menschen in Bremen anlegen. Und Sie tun das aus einer Position heraus, in der Sie persönlich sich genug Raumes für Abstandsregeln, sowie Zugang zu Schutzmaterialien und hochwertiger medizinischer Versorgung, sicher sein können.

Als es aber darum ging, zuzugeben, dass es ein Fehler war, die Einrichtung nicht zu schließen, weil sich dort nun die Corona-Fälle häuften, verwiesen Sie an dieser Stelle auf das RKI und sagten, dass dies nur geschehen sei, weil die Vorgaben der Testung durch das RKI zu restriktiv seien und so keine Kenntnis der Verbreitung vorgelegen habe. Das ist zynisch und inhaltlich falsch!

Viele von uns im MediNetz arbeiten als Hebammen, Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen oder an anderen Stellen im Gesundheitswesen und setzen uns tagtäglich dafür ein, die Pandemie in Bremen einzudämmen. Im Folgenden möchten wir Ihnen zeigen, warum wir mit unserer Expertise den bisherigen Umgang in der EAE deutlichst kritisieren und für unverantwortlich halten:

1) Die Auflagen von Quarantäne in der Erstaufnahmestelle (bei Aufnahme nach Einreise über Risikogebiete) wurden in der Vergangenheit keineswegs nach Vorschrift durchgeführt. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses des Covid-19 Tests vergingen bis zu 2 Tage. In dieser Zeit hatten die Personen:
stets freien Zugang zu allen offenen Angeboten der EAE wie Speisesaal, Beratung, medizinische Sprechstunde, Sprechstunde der Hebammen
freien Kontakt zu anderen Bewohner*innen der EAE
ein Zimmer mit mehreren anderen Neuankömmlingen (2, 3 oder 4 Bett-Zimmer, plus ggf. Kinder)
Die Zimmer der Neuankömmlinge lagen lediglich in einem anderen Trakt – eine Farce, die jeglicher inhaltlicher Logik eines Infektionsschutzes entbehrt. Zudem wurden nach positiver Testung auch nicht die persönlichen Kontakte nachverfolgt, sondern nur die Wohneinheit (der Flur) der betreffenden Person unter Quarantäne gestellt.

2) Auch aktuell gibt es gravierende Defizite:
Seit dem 16.04.2020 findet die Quarantäne in Großgruppen statt. Die jeweilige Flureinheit, in der eine Person positiv getestet ist, wird unter Quarantäne gesetzt und dann werden alle betroffenen Personen getestet. Die Testergebnisse werden nach ca. 2 Tagen bekannt gegeben, die positiv getesteten Personen erst dann aus dem Flur herausgeholt. In diesem Zeitraum bieten die beengten Räumlichkeiten ideale Möglichkeiten für weitere Ansteckungen:
Die zum Teil engen Zimmer sind immer noch mit bis zu 4 Personen belegt (ohne dass es sich dabei um Familienverbünde handeln würde, Stand 19.04.2020).
Die Bäder werden gemeinsam genutzt.
Es gibt nur enge Fluren außerhalb der Zimmer, wo sich als einziges die Fenster öffnen lassen.
Die Zimmerfenster sind nicht zu öffnen.
Es wird kein Mund-/Nasenschutz ausgegeben.

Die aufgeführten Informationen stammen von verschiedenen Bewohner*innen der Einrichtung sowie von Mitarbeiter*innen in der EAE.

Von Anfang an wurde von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen, dass diese Bedingungen sehr offensichtlich gefährlich sind und bereits eine einzige infizierte Person zum unkontrollierbaren Ausbruch einer Masseninfektion führen würde. Erst durch die öffentlichen Proteste wurden am 24.03.2020 schließlich Risikopersonen in anderen Einrichtungen untergebracht.

Diesen gesamten Umgang bezeichnen wir als Missmanagement und als Diskriminierung von Geflüchteten. Weitere Ansteckungen sind unter solchen Bedingungen unausweichlich. Gleichwohl versicherten Sie, Herr Bovenschulte, dass der Senat die Lage immer wieder neu bewerte und den Schutz der Bewohner*innen gewährleistet sieht (17.04.2020, buten un binnen). Dass Sie eine solche Situation als Schutz von Menschen betiteln, halten wir für einen Skandal!

Am 23.04.2020 schlussfolgerten Sie, Frau Stahmann (s. buten un binnen), aus den hohen Ansteckungszahlen in der Erstaufnahmeeinrichtung, dass die Infektion in der Gesellschaft offensichtlich weiter verbreitet sei, als man bisher annehme. Zudem zeige sich anhand der Symptome in der Erstaufnahmeeinrichtung, dass die Krankheit nicht unbedingt so schlimm verlaufe, wie immer gezeigt werde. Diese Aussagen sind fachlich nicht richtig und an Verharmlosung und Impertinenz kaum zu überbieten. In der Erstaufnahmeeinrichtung haben sich inzwischen 32% der Menschen angesteckt, mit steigender Tendenz und dies haben Sie zu verantworten! Dass Sie Menschen, die in Ihrer Obhut leben, dem Ansteckungsrisiko derart unbedacht aussetzen, sie gefährden und in keiner Weise Verantwortung dafür übernehmen, empört uns zutiefst.

Es wird immer deutlicher, wie richtig die Strafanzeige des Flüchtlingsrates war – denn es darf keine derartigen Unterschiede darin geben, wie Menschen in Bremen vor Ansteckung geschützt oder der potentiellen Ansteckung ausgeliefert werden.

Wir fordern, sofort Bedingungen zu schaffen, die den Geflüchteten in der EAE einen ausreichenden Schutz gewähren:
Unterbringung einzeln bzw. in Familienverbünden oder in kleinen sozialen Bezügen
Zugang zu eigenen Bädern
Keine Quarantäne in Großgruppen
Erneute Testung der Personen, die sich mit positiv Getesteten in einem Quarantäne-Flur aufhalten mussten und müssen
Ausgabe ausreichenden Mundschutzes an die Bewohner*innen
Umsetzung der Maßgaben und Empfehlungen des RKI

Wir fordern die Aufklärung dessen, wer für das Missmanagement und die Massenansteckung in der EAE verantwortlich ist!
Wir fordern qualifiziertes Personal für das Management für den Bewohner*innenschutz vor Covid 19 in der EAE und den Übergangsheimen!
Alle Menschen haben das gleiche Recht auf einen Schutz vor Corona!

Frauke Schukat (Hebamme)
Dr. med. Vera Bergmeyer (Ärztin)
Dr. med. Maren Janotta (Ärztin)
Julia Vogel (Ärztin)

für das MediNetz Bremen